Bewertungsnummer: 2323278
Bewertet: Buch (Taschenbuch, erschienen im Buchhandel, die Rezension bei Thalia, Hugendubel und für das eBook bei Amazon)
In „Die Blutung der Welt“ wird wohl die frivole Seite des Lebens gezeichnet wie die Verführung, die Erotik, die Sexualität. Das eigentliche Thema jedoch ist der Missbrauch, die Vergewaltigung, die Gewalt, die Selbsttötung. Wie lässt dies sich "einpacken" in ein Buch, das man, ohne sich diesen Grausamkeiten zu verschließen, aushalten kann?
Indem man die Geschichte dem Dualismus unterwirft, den Drahtseilakt vollführt, in beide Welten einzutauchen: Die der Wolllust und Lust und die der verabscheuungswürdigen Gewalt und dem Missbrauch und allem dabei seinen Raum lässt. Reales mit Surrealem ineinander fließen lässt, dem Leser Zeit gibt, manchmal ein klein wenig Luft zu schnappen, ihn jedoch in eine ganz eigene Welt verführt, in der auch er sich zu verlieren riskiert. Und es danach trotzdem nicht bereut, sich dem Ganzen gestellt zu haben.
Bis zum Schluss kommt die Frage auf, ob das Geschriebene, das kurzweilige Eintauchen in die Fiktion, die Mythologie, in historische Gegebenheiten und vor allem der Erzählstrang überhaupt miteinander zu verbinden sind.
Die Basis ist die einer schon fast banalen Liebesgeschichte zweier Fremder, die sich begegnen, kennen und lieben lernen. Doch es geht um Tieferes, um Bedeutsameres. Wie die Sexualität hinterlassen auch die Gewalt und der Missbrauch eine unerschöpfliche Spur in unserem Körper, unserer Seele, in unserer Vitae. Durch ganze Familiengeschichten, Epochen, historische Zeitalter säumt beides den Weg und hinterlässt Opfer, die sich gegebenenfalls nie mehr der Erholung zuwenden können. Nur noch der Suche, mit dem Erlebten irgendwie klarzukommen, ohne sich selbst in der schwarzen Seite, der des Täters, des Süchtigen, zu verlieren.
Mit einer zweiseitigen Erklärung zu ihrem Erzählverhalten, eingebettet in die 362 Seiten starke Handlung, ebnet die Autorin den Weg zu einem höheren Verständnis, das dem Ganzen nochmal an Tiefgründigkeit zugutekommen lässt.
Wie wichtig, dass es Bücher gibt wie dieses!
Ob man nun das Geschriebene als Erzählkonstrukt löblich oder verwerflich zu finden vermag, ist eine Sache des Geschmacks. Liebhaber asiatischer Erzählkunst à la Murakami werden sich auf jeden Fall in einem ähnlichen Szenario wiederfinden, in dem Real und Surreal in einem ständigen Wechselspiel trotzdem harmonieren und einen Kader schaffen, der Geschichte einen Stempel der Außergewöhnlichkeit aufzudrücken.
Vorab erstmal vielen Dank für das Rezensionsexemplar an den Liberati-Verlag. "Die Blutung der Welt" ist mein erster Roman des Verlages und mein erstes Buch der Autorin Renata Vivace. Es handelt sich hier übrigens um einen lesbischen Roman mit ernsten Themen.
Nur eine kleine Triggerwarnung: die Themen Suizid, Missbrauch und Vergewaltigung spielen eine große Rolle. Wer Probleme mit diesen Themen hat, sollte hier vorsichtig sein!
Wer bei "Die Blutung der Welt" mit einem klassischen Roman rechnet, liegt völlig falsch. Auch ich persönlich habe mit etwas ganz anderem gerechnet😅
Der Schreibstil ist am Anfang sehr gewöhnungsbedürftig. Du bekommst hier eine Mischung aus vulgärer jugendlicher Sprachweise gepaart mit der Dichtkunst Goethes geliefert. Das ist auf keinen Fall negativ gemeint, sondern es ist mal wieder etwas anspruchsvolleres😁
Der Roman an sich ist von der Story her auch sehr vielschichtig; von Humor über Missbrauch bis zu einer lesbischen Beziehung ist hier alles dabei.
Die Fußnoten, die teilweise vorkommen, sind manchmal hilfreich und manchmal lustig zu lesen. Es ist aber ehrlich gesagt auch mein erstes Buch mit Fußnoten, glaube ich jedenfalls🤔
Alles in allem kann ich "Die Blutung der Welt" jedem empfehlen, der auf höherer Literatur steht und auch mal anspruchsvolle Bücher liebt. Mir persönlich hat das Buch gezeigt, dass ich auch mal wieder das ein oder andere klassische Buch zur Hand nehmen werde.
So manche Leserin und viele Rezensenten werden sich, nachdem sie die Blutung der Welt gelesen haben, der Frage stellen müssen, um was ging es in dem Buch eigentlich. Welche Ebene, welche Realität, welcher Erzählstrang oder -stil hatte Bedeutung? Gibt es eine authentische wahre Geschichte hinter der Fiktion oder ist nicht jede von uns Marina und Marike, Linda und Luise, nicht jeder ein Karl oder Franz oder ein unbekannter Chauffeur, der ein Auto fährt in eine Welt, die nur wenige erkundet haben?
Allein ein Adept hat eine Ahnung von dem Pfad, auf den Renata Vivace uns führt; der schmale Grat, der die Dualität teilt. Rechts Rationalität, links Irrationalität; rechts Wirklichkeit, links Fiktion; rechts weiß, links schwarz; rechts Gefühl, links Verstand rechts nüchtern, links trunken – wahrlich, der auf dem Grat wandelt, ist immer beides zugleich. Nicht mehr These und Antithese, sondern einzig und allein Synthese. Und nur die überwindet Verwirrung und Verwüstung, Chaos und Aufbau, mit denen die Meisterin die Schülerin prüft.
Nun will ich Renata Vivace einreihen und in einem Atemzug nennen mit William Shakespeare (John Dee), Johann Wolfgang von Goethe, Hermann Hesse, Gustav Meyrink und Aleister Crowley. Sie alle schauten hinter die Kulissen und waren Wissende, Eingeweihte und Lehrer der Menschheit. Häufig verkannt, weil sich der Komödiant nach Beifall sehnt und nur das gelten lässt, was er selbst versteht; das Bühnenbild für Realität hält.
Wie die wahrhaft Wissende wirft Frau Vivace uns Brosamen hin, die wir begierig aufpicken. Eine echte Meisterin stellt die Erfahrung der Adepten über die abstrakte Wissensvermittlung. Insofern sind die Krümel echte Goldnuggets, die durch Übung und Meditation erfahrbar sind und zur Erleuchtung führen.
Was wären meine Behauptungen wert, könnte ich sie nicht beweisen. Nicht das Schwarze unterm Fingernagel! Hier folgen meine Begründungen:
Der Verlag gestattete mir ein telefonisches Interview mit der scheuen Autorin, die unter anderem Namen in der Nähe von Freiburg lebt und ihre Identität nicht preisgeben mag. Ich konnte ihr das Eingeständnis abringen, dass sie weiß, wovon ich spreche und dass sie einen Einweihungsweg gegangen ist. Leider teilte Frau Vivace mir nicht die Namen ihres Meisters mit. So vermag ich nur Indizien aufzuführen, die meine Behauptungen begründen.
Schon auf den Seiten 24 und 308 des Vorabdrucks eröffnet die Autorin das Tor für diese Sichtweise und ein Verständnis dieser Art. Die Antwort Mu auf einen Koan wie ‚Hat ein Hund Buddhanatur?‘, die über ein WauWau hinausgeht, verweist auf die Adeptin. Mit ihren Fußnoten reibt sie uns diesen Zusammenhang unter die Nase!: „Bedeutete der Tod unendliche Verneinung oder das absolute Nicht-Sein? Ich meinte nicht. Meine Visionen erschienen mir wahrscheinlicher. Mu stellt sich im Wald dar. Ein ewiges Vergehen und Werden.“ und „Wird Mu als Antwort gegeben, kann sie so interpretiert werden, dass Mu zugleich Antwort und Nicht-Antwort ist, weil die Frage einem dualistischen Geist entspringt und damit jede Antwort möglich wäre.“ Schon da fragt sich der geschulte Leser, welchem Pfad die Autorin gefolgt ist. Ist es Yoga oder Zen? Oder vielleicht doch einem abendländischen Eingeweihten wie Rudolf Steiner, Franz Bardon, Bo Yin Ra oder Ram Dass?
Ein weiteres Koan auf Seite 309: ‚Aus dem scharfen Knall, der durch Marikes Schuss in meine Welt gekommen war, wurde das Klatschen einer Hand, das durch die Ewigkeiten hallte. Ich durchbreche die Barriere.‘ Wie antwortet die Zen-Buddhistin auf die Frage ‚Wie klingt das Klatschen einer Hand?‘ Die Normale vielleicht mit der Anzahl ihrer Büstenhalter?! Frau Vivace hebt die Amnesie ihrer Protagonistin auf! Ein genialer Schachzug, dem sich der direkte Weg zur Erleuchtung anschließt, den sie vorher angekündigt hatte. Welche Barriere ist hier gemeint? Natürlich die, die sie vom EinsSein mit allem abhält. In bester (K.O.) Schmidtscher Diktion erzählt die Dichterin von der Verschmelzung mit unbekannten Wesen auf fremden Planeten. In einer Vision wird die Ich-Erzählerin zu einer methanatmenden Zwergin, danach zu einer tollpatschigen Riesin, die auf Planeten und Sterne trampelt und Galaxien in den Abgrund stürzt. Diese Bilder mischt Frau Vivace frei weg mit Einsichten aus der Zeit nach dem Erwachen und der Verschmelzung mit allem, was ist.
Zu guter Letzt möchte ich noch auf die Erfahrungen der „Studentin“ Vivace hinweisen, die bewusstseinsveränderte Drogen gemeistert hat. Aleister Crowley betont im Equinox die Wichtigkeit und Herangehensweise. Über viele Seiten hinweg protokolliert und erzählt er „The Psychology of Hashish“. Analog nimmt die Autorin uns in dem Kapitel ‚Laughing Buddha‘ auf die Reise zu dem tierischen Ich mit, das vor seinem Tod die Wohltaten des Drogenmixes Kokain und Gras erfährt. Einfach köstlich zu lesen. Und bitte, liebe Leserinnen und Leser, lassen wir die Kirche im Dorf. Hier geht es um das instinkthafte körperliche und auch (körper)bewusste Ich und nicht um einen tatsächlichen Hund! Bestimmt ist die Autorin eine Tierfreundin!
Sicher hat Renata Vivace das Aufzeigen sexueller Gewalt für wichtig erachtet, doch genauso die Lust, die aus dem respektvollen Miteinander resultiert. Und so will ich mit folgendem Zitat aus dem Prolog meine Rezension beschließen: „Doch wenn das Ziel immerwährende Ekstase ist, kann kein Opfer Opfer bleiben wollen, sondern die Missbrauchte oder der Vergewaltigte wird über das übliche Opfer-Täter Schema hinausgehen und sich in höherem Denken, in höherem Dasein versuchen wollen.“